Nepal: Trekking im Solu Khumbu
Reisebericht mit Bildern

Götter, Berge, Menschen und Kulturen – Himalaya 1982

(Briefauszüge, Bergtagebuch und nachträgliche Ergänzungen)

 

In Kathmandu - Hauptstadt von Nepal

In Kathmandu erholen wir uns während der ersten Tage von unserem strapaziösen Aufenthalt in Nord-Indien. Indien ist kein Land, wo ich leben könnte - in Kathmandu dagegen gefällt es uns sehr gut, und man könnte es hier eine ganze Weile aushalten. Außerdem wird für den Gaumen einiges geboten: Es gibt herrliche Kuchenläden, wo man riesige Kuchenstücke für ca. eine DM bekommt. Außerdem kann man chinesisch, tibetisch, westlich (Steaks!) oder indisch essen. Vom indischen Essen haben wir allerdings die Nase voll: Dauernd Reis mit irgendwelchen scharfen Saucen. Außerdem ist es uns oft auch nicht bekommen, w„hrend wir hier bis jetzt berhaupt noch keine Verdauungsprobleme haben - und das, obwohl wir wie die Wahnsinnigen futtern, z.T. mehrere Kuchen und Torten oder verschiedene G„nge hintereinander.

Die Menschen in Kathmandu sind meist sehr freundlich, und die ganze Stadt hat irgendwie eine besondere Atmosphäre. Teilweise wirkt sie mit all ihren exotischen Tempeln und alten Gebäuden wie ein riesiges Museum, andererseits ist alles voller Leben, mit Märkten, Kindern oder freilaufenden Hunden, und auch die Religion - Hinduismus und Buddhismus friedlich nebeneinander - ist unübersehbar im Alltag integriert. So bietet Kathmandu eine faszinierende Mischung aus Geschichte, Menschen und lebendiger Kultur. Es lohnt sich wirklich, stundenlang durch die z.T. menschengefüllten, z.T. engen und dreckigen Gassen zu bummeln und dabei einfach zu schauen und zu beobachten.

Daneben holen wir alle möglichen Erkundigungen ein, gehen zur Post, buchen einen Flug ins Everest-Gebiet und zurück nach Indien, beantragen ein Trekkingpermit und kaufen uns Verpflegung für unsere geplante Berg- und Trekkingtour. Für all diese Erledigungen sind Fahrräder sehr praktisch, die man sich überall ausleihen kann. Damit besuchen wir auch verschiedene Sehenswürdigkeiten in der Umgebung. Der Tempel von Swayambhunath liegt auf einem kleinen Hügel mit schöner Aussicht auf die Stadt und beherbergt auch ein paar wildlebende Affen. Das berühmteste Hindu-Heiligtum Nepals ist der Pashupatinath-Tempel am Fluss Bagmati - hier waschen sich nicht nur viele Pilger, sondern es werden am Ufer auch Leichen verbrannt. Hingegen ist die Stupa von Bodnath, eines der schönsten Baudenkmäler Nepals, ein buddhistisches bzw. tibetisches Heiligtum, in dessen Umgebung auch viele geflüchtete Tibeter leben.

Über die politische Lage in Deutschland sind wir trotz der großen Distanz übrigens erstaunlich gut informiert. Schon auf der Fahrt von Kargil nach Zanskar bekamen wir in einer kleinen abgelegenen Ortschaft völlig überraschend von einem Einheimischen die Nachricht: "Schmidt has collapsed!" - Wir brauchten lange, bis wir kapierten, dass damit der damalige deutsche Bundeskanzler gemeint war. Wieder zurück in der Zivilisation, lesen wir in allen indischen Zeitungen groß auf der ersten Seite, dass Helmut Kohl Bundeskanzler wurde, und in der nepalesischen Zeitung sind auch alle neuen Minister aufgeführt.

Allerdings ist unsere Freude in Kathmandu nicht ganz ungetrübt. Man braucht sowohl zum Trekking als auch zum Bergsteigen Permits, d.h. Erlaubnisscheine. Während bis letztes Jahr ein Sechstausender 15 Dollar gekostet hat, sind es nun 200 Dollar. Das würde bei vier geplanten Sechstausendern summa summarum 2000 DM ausmachen! Außerdem muss man noch einen Führer bezahlen und verpflegen. Das alles ist eine ziemliche Geldschneiderei, die einem den Spaß schon etwas verleiden kann. Andererseits wird ja wohl kaum vor jedem Berg ein Polizist stehen und kontrollieren!

 

Im Solu Khumbu Gebiet - Heimat der Sherpas

Mit einer kleinen Propellermaschine fliegen wir dann nach Lukla, einem kleinen Ort im Everest-Gebiet. Unter uns ziehen tiefeingeschnittene Täler vorbei, kleine Dörfer und kunstvoll angelegte Terrassen. Die Piste in Lukla besteht aus einer schrägen, ziemlich holprigen Wiese, aber unser Pilot setzt gekonnt auf. Von hier aus wollen wir drei Wochen trekken und bergsteigen. Das dauert in Nepal alles sehr lange - in kürzerer Zeit kann man kaum etwas Vernünftiges machen, weil die Anmarschwege so weit sind. Durch den Flug haben wir schon zehn Tage gespart.

Wir zerren unsere 80 kg Gepäck aus dem Flugzeug und überlegen, wie wir jetzt am besten weiterkommen. Da spricht uns ein vielleicht 16-jähriger Junge an und fragt, ob wir einen Träger bräuchten. Wir unterhalten uns ein Weilchen und werden uns schnell über alle Fragen einig. Mit seinem Stirnband packt er sich unseren großen schwarzen Sack auf und schon geht es los. Nach einer Weile machen wir Pause in seinem Heimathaus, denn er möchte sich noch ein paar Sachen einpacken. Auch seine Eltern sind da, und die sind plötzlich gar nicht mehr einverstanden mit dem Lohn, den wir ausgehandelt haben. Sie wollen, dass wir auch das Essen für den Jungen bezahlen. Das sehen wir jedoch nicht ein, denn in all unseren Büchern steht, dass die Träger für ihr Essen selbst aufkommen. Es gibt einen Streit und schließlich sind wir so sauer, dass wir unsere 80 kg Ausrüstung wieder packen und ohne Träger weitergehen.

Das Gewicht wird aber bald unerträglich und wir machen immer öfter Pause. Was tun? - So geht es auf alle Fälle nicht weiter. In dem Dorf Lulming spricht uns eine Frau an: Ob wir einen Träger bräuchten? Ob wir auch eine Frau nehmen würden? - Sie stellt uns Pulamu vor, eine schmales 18-jähriges Sherpamädchen. Wir unterhalten uns ein Weilchen mit den Frauen und fangen langsam an, die Lage der Träger besser zu verstehen. Die Lebensmittel sind weiter oben recht teuer, so dass fast der ganze Lohn fürs Essen draufgehen würde, wenn die Kosten nicht von Touristen übernommen werden. Nur bei großen Expeditionen, wo die Träger Reis und Tsampa selbst dabei haben, ist es üblich, das Essen nicht extra zu bezahlen. Diese Argumente leuchten uns ein. Schließlich einigen wir uns, dass wir für Pulamu 20 Rupien pro Tag (etwa vier D-Mark) und das Essen zahlen. Für uns ist das ein lächerlich geringer Betrag, doch für die Leute dort ist es viel Geld und oft die einzige Möglichkeit, etwas zu verdienen.

Wir wandern im Tal des Dudh Kosi aufwärts Richtung Namche Bazar. Zusätzlich zu unserem schwarzen Sack hat Pulamu auch noch eigene Sachen in ihren Tragekorb gepackt - insgesamt etwa 30 kg, genauso viel wie Walter. Leichtfüßig schreitet sie in ihrem langen Rock dahin, so dass ich Mühe habe nachzukommen. Namche Bazar liegt 3400 m hoch, und das letzte Stück bis zum Dorf geht es noch einmal steil bergauf. Dort finden wir im Kala Pattar Hotel Unterkunft. Den nächsten Vormittag lassen wir gemütlich angehen und sind erst einmal beschäftigt mit Briefeschreiben, Flicken und Fotografieren.

Am Nachmittag machen wir uns auf den Weg nach Khunde, wo wir das Hillary-Krankenhaus besuchen wollen. Es ist recht düster geworden, die Wolken hängen tief herunter - doch die Stimmung ist eigenartig und geheimnisvoll. Im Krankenhaus hängt ein Schild, dass wegen der zahlreichen Besucher eine feste Besuchszeit am Morgen eingerichtet wurde. Wir unterhalten uns kurz mit dem Arzt, einem Neuseeländer, der zusammen mit seiner Frau für zwei Jahre hier arbeitet. Wir verstehen, dass er für uns jetzt keine Sonderführung veranstalten kann und nehmen uns vor, auf dem Rückweg noch einmal in der Klinik vorbeizuschauen. Da es in Khunde keine Übernachtungsmöglichkeit gibt, wandern wir weiter nach Khumjung, wo wir im "Hotel" Ama Dablam Unterkunft finden. Hier lebt eine sehr freundliche ältere Frau mit ihren zwei Pflegekindern. Zum Abendessen lernen wir gleich die Spezialität des Hauses kennen: Kartoffelpfannkuchen mit Yakkäse. Hmmhh!

 

Unterwegs im Gokyotal

Steil geht unser Weiterweg auf und ab. Wir wandern hinein in das Tal, das nach Gokyo führt. Nachmittags fängt es leise an zu schneien. Eigentlich wollten wir bis zum Abend weiterlaufen, doch die Alm Dole ist angeblich das letzte Haus vor Gokyo, das jetzt noch offen ist. Also bleiben wir hier. Allerdings wird es in der Alm allmählich so voll, dass wir es schließlich vorziehen, unser Zelt aufzustellen, wo wir mehr Platz haben.

An einem schönen Herbsttag mit klarer Luft und blauem Himmel wandern wir weiter, vorbei an den Almen Luza und Machhermo, die um diese Jahreszeit alle schon verlassen sind. Ich habe wieder mal einen Durchfall aufgeschnappt - wahrscheinlich sollte ich doch keinen Yakkäse mehr essen! Ziemlich müde schleiche ich dahin. Mein Auftrieb wird auch nicht gerade gesteigert, als es nachmittags wieder anfängt zu schneien. In Gokyo sind noch einige andere Touristen da. Eine DAV-Gruppe hat ihre Zelte aufgestellt, und die Almhütten sind voll mit anderen Trekkern. So machen wir es uns wieder in unseren eigenen vier Zeltwänden bequem.

Wir erwischen einen schönen Tag, um den Gokyo Kang zu besteigen. Gokyo liegt 4700 m hoch, der Gipfel 5400 m - also noch 700 Höhenmeter. Aber ohne all unser Gepäck geht es schon sehr viel leichter voran, und wir erreichen relativ schnell den Gipfel. Von hier aus haben wir wirklich eine wunderbare Aussicht. Tief unter uns liegen die türkisfarbenen Gokyo-Seen mit den Almen, dahinter erheben sich die fotogenen Sechstausender Jobo Lhaptsan und Taboche. Im Osten sehen wir den Mt. Everest und den Lhotse, im Norden den Cho Oyu über dem riesigen Ngozumpa-Gletscher. Solch eine Traum-Aussicht hat man selten, und wir genießen sie ausgiebig.

Der Mt Everest (8848 m) aus der Ferne vom Gokyo Kang

 

Fünftausender - Pässe und Gipfel

Zu Mittag sind wir wieder unten in Gokyo und beschließen, heute noch ein Stück weiterzugehen. Wir überqueren den Ngozumpa-Gletscher. Ach Gott - ist das mühsam! Hier an seinem Ende ist er übersät mit Geröll, großen und kleinen Felsblöcken. Es ist ein ständiges Auf und Ab, doch irgendwann sind wir endlich auf der anderen Seite. Mit uns unterwegs sind noch ein Amerikaner namens Tom und sein Träger. Pulamu und der Träger besorgen auf der Alm Dragnag noch ein paar Pfund Kartoffeln - sie erklären uns, hier wären sie besser und billiger als anderswo. Ich kann es kaum glauben, dass sich die schmächtige Pulamu jetzt auch noch die Kartoffeln in ihren schweren Korb packt - aber leichtfüßig wie immer steigt sie den Hang hinauf. Tom dagegen kämpft schwer mit der Höhe - er leidet an Kopfschmerzen und Übelkeit und kommt nur sehr langsam voran.

In etwa 5000 m Höhe schlagen wir die Zelte auf. Pulamu und der Träger machen ein Feuer und kochen Kartoffeln. Ob die in dieser Höhe jemals gar werden? Eine Weile später sind sie zwar nicht ganz durch, aber immerhin genießbar. Tom geht es jetzt so schlecht, dass wir anfangen, uns Sorgen zu machen. Mitten in der Nacht beschließt er, in tiefere Regionen abzusteigen. Wahrscheinlich ist es das Beste, was er machen kann. Da er einen verlässlichen Träger dabei hat, sind wir zuversichtlich, dass er gut hinunterkommt, und wünschen ihm viel Glück.

Über Nacht schlafen wir diesmal zu dritt im Zelt. Es ist zwar ein bißchen eng, aber dafür etwas wärmer. Auf unserem Programm steht nun der 5400 m hohe Nyiamagawa-Paá. Der Weg zum Pass führt recht mühsam durch grobes Blockwerk, die Luft ist dünn, und die Rucks„cke drücken schwer. Das sind dann die Augenblicke, in denen man sich fragt, warum man diese ganze Schinderei eigentlich auf sich nimmt. Doch sobald wir oben sind, ist alles nur noch halb so wild. Auf der anderen Seite geht es ein Stückchen über einen Gletscher. Pulamu ist bis jetzt in ihren Turnschuhen gelaufen, doch die sind für den Schnee nicht mehr ganz das Richtige. Andererseits sind ihr die leichten Wanderstiefel, die wir noch für sie dabei haben, viel zu groß. Kurzentschlossen zieht sie die Stiefel über ihre Turnschuhe. So geht es auch! Besonders wohl fühlt sie sich in ihren Doppelschuhen aber anscheinend nicht, denn sobald wir den Gletscher hinter uns haben, zieht sie die Wanderstiefel wieder aus. Bei der Alm Dzonghla in 4800 m Höhe schlagen wir unser Lager auf und fallen bald in den wohlverdienten Schlaf.

Majestätisch ragt die Ama Dablam auf der anderen Talseite auf. Wir können nun verstehen, dass dieser formschöne Gipfel bei den Sherpas als heilig gilt. Damit wir die Aussicht besser genießen können, wollen wir nicht im Tal nach Lobuche wandern, sondern versuchen, direkt über den Berghang dorthin zu gelangen. Wir kommen bis etwa 5200 m und müssen dann erkennen, dass es hier keinen direkten Weg nach Lobuche gibt, da die Hänge zu steil abfallen. Walter möchte gerne noch einen Gipfel besteigen, der ein paar hundert Meter höher im Gratverlauf aufragt. Ich ruhe mich lieber aus und warte in der Sonne, bis er wieder zurückkommt. Zum Teil weglos und dadurch recht anstrengend steigen wir nach Lobuche, wo wir im letzten Abendlicht ankommen. Hier ist für die meisten die letzte Übernachtungsstation auf dem vielbegangenen Weg zum Everest Basecamp, und dementsprechend geht es auch zu. Unser Zelt ist wieder mal der richtige Ort, um Ruhe zu finden.

 

Dem Mt. Everest gegenüber

Heute steht wieder ein Gipfel auf dem Programm. über den Khumbu-Gletscher wandern wir bis zu den Hütten von Gorak Shep. Von dort ist es nicht mehr allzu weit bis zum Kala Pattar, was zu Deutsch "Schwarzer Berg" heißt, 5545 m hoch - wenn man das zu Hause liest, klingt das sehr beeindruckend. Doch in dieser Umgebung von Sieben- und Achttausendern sieht unser Gipfel recht mickrig aus. Dicht dahinter erhebt sich der Siebentausender Pumo Ri, und der Kala Pattar ist eher ein Buckel in seinem Gratverlauf als ein selbständiger Gipfel. Man könnte jetzt noch eine Weile damit verbringen, über die Relativität aller Dinge nachzudenken, doch wollen wir ja erst mal den Kala Pattar besteigen. Wir kommen ganz zügig voran - inzwischen haben wir uns recht gut an die dünne Luft gewöhnt. Unterwegs treffen wir einen Amerikaner, der offensichtlich einige Schwierigkeiten hat. Aber er schlägt sich tapfer bis zum Gipfel durch. Oben allerdings klappt er fast zusammen - anscheinend hat er noch seine allerletzten Reserven zum Durchhalten aktiviert.

Die Aussicht ist auch hier großartig, allerdings war sie vom Gokyo Peak fast noch besser. Diesmal sitzen wir direkt dem Everest gegenüber. Ein besonders attraktiver Berg ist er allerdings nicht - im Vergleich zu dem  niedrigeren, aber viel formschöneren Nuptse schaut er eher unscheinbar aus.

Unser Amerikaner Steve kann sich kaum noch auf den Beinen halten, und so nehmen wir seinen Rucksack, geben ihm zwei Skistecken und begleiten ihn hinunter. Er schwankt und stolpert, fällt zwischendurch sogar hin, so dass wir schon besorgt sind, ob wir ihn heil hinunterbekommen. Schließlich erreichen wir doch noch Gorak Shep. Dort flößen wir ihm erst einmal ein paar Tassen Tee ein, und langsam erwachen seine Lebensgeister wieder. Ohne weitere Probleme gehen wir gemeinsam zurück nach Lobuche.

 

Abenteuerlicher Passübergang

Heute wandern Pulamu und wir auf getrennten Wegen. Während Pulamu über Dingpoche nach Chukhung geht, wollen wir den Kongma La überqueren und dabei den Pokalde besteigen. Für den Pokalde bräuchten wir eigentlich ein Permit, das 50 Dollar kosten würde. Wir haben aber wirklich keine Lust, soviel Geld für die Besteigung eines Gipfels zu zahlen. Vor allem ist anzunehmen, dass das Geld in den Taschen von irgendwelchen Beamten landet und nicht bei den Leuten, die es wirklich dringend brauchen könnten. Wir sind ganz alleine unterwegs, so dass uns niemand nach unserem Permit fr„gt. Der Weg zum Gipfel zieht sich in die Länge, zum Schluss wartet er sogar mit leichter Kletterei auf. Doch irgendwann stehen wir dann am höchsten Punkt - 5805 m hoch.

Das Wetter ist heute nicht so gut, und wir haben noch einen langen Weg vor uns, so dass wir bald wieder absteigen. Der Weg vom Pass hinunter nimmt mehr Zeit in Anspruch, als wir vorher gedacht haben. Es wird schnell dämmrig und bald ist es ganz dunkel. Unsere Taschenlampe ist nicht mehr die beste und auf der Karte sind auch nicht alle Einzelheiten eingezeichnet. Wir geraten in dichtes Gestrüpp, das in seiner hemmenden Wirkung starke Ähnlichkeit mit dem Latschenunterholz in den Alpen hat. Dann kommen wir an einen Bach und durch einen Viehpferch - doch kein Weg ist zu sehen. Ich richte mich seelisch schon auf ein Biwak ein, denn ich kann mir nicht vorstellen, dass wir in diesem Verhau heute Nacht noch nach Chukhung finden. Schließlich bleibe ich bei den Rucksäcken und Walter macht sich alleine auf die Suche nach dem Weiterweg. In meine Daunenjacke eingemummt, sitze ich da und döse vor mich hin.

Plötzlich taucht Walter wieder auf - er hat den Weg gefunden. Wir haben ihn vorher nur ganz knapp verfehlt. Um halb zehn erreichen wir endlich Chukhung. Die gute Pulamu hat schon unser Zelt aufgebaut. Sie erzählt, dass sie mit einer Kerze ein Stück den Weg zurückgelaufen ist, um uns zu suchen. Sie ist wirklich eine liebe und zuverlässige Begleiterin und wir sind froh, dass wir sie dabeihaben.

 

Island Peak - unser höchster Gipfel

Wir schlafen uns erst mal richtig aus, bevor wir darangehen, unsere Sachen für den Island Peak zu packen. Der Island Peak ist ein 100 Dollar-Gipfel, und wir hoffen sehr, dass wir keine Schwierigkeiten bekommen, denn hier sind ziemlich viele Leute unterwegs. Pulamu begleitet uns noch ein Stück, um uns tragen zu helfen. Wir sind schon ein Weilchen unterwegs, bis wir merken, dass unsere Richtung nicht ganz stimmen kann. Nach einigen Überlegungen erkennen wir, dass wir auf der falschen Seite des Lhotse-Gletschers sind. Also gut - dann müssen wir eben hinüber. Die Überquerung ist ziemlich ekelhaft, denn der Gletscher ist mit viel Schutt und losem Gestein bedeckt und es geht ständig auf und ab. Wieder einmal bewundere ich, mit welch heiterer Gelassenheit Pulamu ihren schweren Korb durch dieses unwirtliche Gelände trägt, während ich ber diesen Umweg ziemlich sauer bin. Aber alles hat sein Ende und auf der anderen Gletscherseite geht es leichter voran.

Im Basislager herrscht ein ganz schöner Betrieb. Eine große und mehrere kleinere  Gruppen  sind  hier versammelt.  Wir sind  mittlerweile  gut akklimatisiert und deshalb möchten wir den Gipfel von hier aus in einem Stück besteigen. Den meisten anderen Bergsteigern sind die mehr als 1000 Höhenmeter zu viel, so dass sie ein Zwischenlager aufschlagen. So brechen wir mitten in der Nacht  auf. Walter hat am Abend einen Teil der Ausrüstung schon ein Stück nach oben getragen, so dass wir jetzt flott vorankommen. Nachdem es hell geworden ist, treffen wir weiter oben vier Deutsche, die hier übernachtet haben. Sie brechen gerade erst auf - das Zwischenlager hat also keinen rechten Zeitvorteil gebracht und sicherlich viel mehr Energien gekostet.

Bevor wir den Gletscher betreten, kochen wir uns auf 5900 m Höhe noch ein Süppchen auf dem Kocher, den wir mit heraufgetragen haben. Das tut gut! Auf dem Gletscher gibt es einige große Spalten, die wir aber gut umgehen können. Eine Steilflanke führt hinauf zum Grat, doch der Schnee ist weich, so dass wir keine Probleme haben. Ein Stück geht es noch am Grat entlang und dann stehen wir am Gipfel - mit 6189 m unser höchster Berg! Wir fühlen uns noch recht fit - jetzt macht es sich doch bemerkbar, dass wir vorher schon eine ganze Weile in großer Höhe waren. Das Wetter ist leider nicht mehr gut, so dass wir keine besondere Aussicht haben. Der Abstieg ist glücklicherweise nicht sehr problematisch, und am Nachmittag sind wir zurück im Basislager.

Am nächsten Tag schlafen wir uns wieder aus und frühstücken ausgiebig. Jetzt merken wir doch in unseren Knochen, dass wir gestern etwas geleistet haben. Mittlerweile ist auch die DAV-Gruppe hier eingetroffen, und wir vergleichen unsere relativ bescheidene Ausrüstung mit all den Sachen, die sie dabeihaben. Da gibt es Klapptische und -stühle, jede Menge Geschirr und Zelte, und natürlich einen ganzen Tross von Trägern und Küchenpersonal. Also - mit so einem Aufwand möchte ich hier wirklich nicht bergsteigen. Manchmal denke ich, dass sogar wir viel zu viel Zeug dabeihaben - aber verglichen mit den anderen ist es doch recht wenig. In aller Ruhe packen wir zusammen und wandern zurück nach Chukhung.

 

Gesundheitliche Probleme auf dem Rückweg

Wir hatten erst überlegt, ob wir noch den Chukhung Ri besteigen sollen, aber nach dem Island Peak reizt uns dieser Gipfel nicht mehr besonders. Außerdem ist mit Walters linkem Auge etwas nicht in Ordnung: Es ist rot und schmerzt. Ernüchtert muss ich feststellen, dass weder von der Vorlesung noch vom Kurs in Augenheilkunde viel hängengeblieben ist. Wir haben nicht einmal eine antibiotische Augensalbe dabei!

Wir machen uns deshalb auf den Rückweg und rasten zu Mittag in Dingpoche. Es liegt 4400 m hoch und ist das höchste dauerbesiedelte Dorf in der Gegend. Dann treffen wir wieder auf den Hauptweg zum Everest Basecamp, überqueren nach Pangpoche den Imja Drangka-Fluá und steigen auf der anderen Talseite hoch zum Kloster Tengpoche. Unterwegs treffen wir einen Spanier, der sich den Fuß verstaucht hat und kaum noch laufen kann. Wir geben ihm eine elastische Binde und nehmen sein Gepäck, dann hüpft er hauptsächlich auf einem Bein den Berg hinauf. Das letzte Stück kommen ihm Freunde entgegen, die ihn bis zum Kloster tragen.

Dort ist alles ein bißchen trist: Dicker Nebel hängt über den Bergen, die Gipfeleuphorie hat sich gelegt, und Walters Auge macht uns immer mehr Sorgen. Auch am nächsten Tag ist das Wetter nicht besser. Tengpoche - angeblich einer der schönsten Orte der Welt - schaut im Moment einfach trostlos aus. Von den herrlichen Gipfeln rundum ist nichts zu sehen, alles ist feucht, grau und kalt. So ziehen wir bald wieder los und erreichen am Nachmittag Khumjung. Hier überlegen wir uns,  was wir weiter machen wollen: Ursprünglich hatten wir geplant, über den Trashi Labtsa ins Rolwaling Tal zu gehen - doch wenn Walters Auge nicht besser wird, hat das wenig Sinn.

So gehen wir zum Khunde-Hospital, um uns dort medizinischen Rat zu holen. Leider ist keiner von den Ärzten da, doch ein Krankenpfleger gibt uns zumindest Augentropfen mit. Auf dem Rückweg treffen wir eine Trekkinggruppe, zu der auch zwei Ärzte gehören. Da es mittlerweile schon wieder in Strömen regnet, machen sie Pause im Ama Dablam Hotel und schauen das Auge an. Sie können auch nicht genau sagen, was los ist, aber sie meinen, wir sollten möglichst bald nach Kathmandu zurück und in eine Klinik gehen. Schließlich schenken sie uns noch eine antibiotische Salbe. Da wir bei dem schlechten Wetter sowieso keinen Flug von Lukla bekommen, können wir genauso gut hier auf bessere Zeiten warten. Die Frau im Ama Dablam Hotel ist wirklich sehr nett und kocht für Walter sogar extra gute Sachen.

Am nächsten Morgen gehen wir wieder nach Kunde und treffen dort die neuseeländische Ärztin an. Sie empfiehlt auch, nach Kathmandu zurückzugehen, und gibt uns Augentropfen und Verbandszeug mit. Sie zeigt uns dann noch das Krankenhaus, in dem - Gott sei Dank eigentlich - im Moment nicht viel los ist. Das Wetter ist heute besser, und so beschließen wir, in einem Zug bis Lukla durchzulaufen. Wir bekommen von der Ärztin noch einen Brief für den Flugplatz, in dem drinsteht, dass wir dringend ausfliegen müßten.

 

Ungeplanter Rückflug

Wir verabschieden uns von den netten Leuten in Khumjung, verkaufen unsere letzten Essensvorräte und machen uns auf den Rückweg. Unterwegs schauen wir uns noch das große, luxuriöse Everest Hotel an, das gähnend leer ist und in dieser Landschaft ziemlich deplatziert wirkt. Hier hat mal wieder Geschäftsgeist über alle vernünftigen Überlegungen gesiegt, doch die Rechnung ist für die Hotelbetreiber nicht so recht aufgegangen. Schnell kommen wir hinunter nach Namche, wo wir eine kleine Pause machen. Auf dem weiteren Rückweg legen wir ein solches Tempo vor, dass dieses Mal Pulamu Schwierigkeiten hat mitzuhalten. Aber wir wollen unbedingt heute noch bis Lukla kommen, damit wir morgen auch sicher zurückfliegen können. In Pulamus Haus machen wir kurz Rast, dann laufen wir weiter bis Lukla, das letzte Stück sogar im Mondenschein.

Gleich in der Früh sind wir mit unserem Brief beim Flughafen und erklären unsere Lage. Auf Grund des schlechten Wetters in den letzten Tagen hat sich ein ziemlicher Stau von Touristen gebildet, und natürlich wollen alle möglichst schnell fort. Doch wir bekommen relativ problemlos zwei Plätze in einer Maschine. Dann geht alles recht schnell und hektisch. Wir verabschieden uns von Pulamu, bezahlen sie und schenken ihr noch ein paar Kleinigkeiten. Ich überlege, was wohl in ihrem Kopf so vorgeht. Wenn ein Tourist krank wird, schaut er, dass er das nächste Flugzeug erwischt und nach Kathmandu zurückkommt. Wenn ein Einheimischer krank wird - na ja!... Zumindest haben die Leute hier jetzt das Khunde-Hospital. Das alles sind so zwiespältige Gedanken, die einem  während eines Nepal-Trekkings manchmal befallen. Aber jetzt ist keine Zeit mehr zum Nachdenken, wir steigen ins Flugzeug und schon hoppeln wir auf der Wiesen-Piste los. Eine Stunde später landen wir in Kathmandu.

 

Zurück in München

Drei Tage danach sind wir wieder in München. Nach dieser Reise habe ich wirklich Schwierigkeiten, mich zu Hause neu einzugewöhnen. Der Sprung war einfach zu groß und alles ging zu schnell. Auf der einen Seite das einfache, manchmal harte Leben in den Himalayabergen, wo wir mit wenig ausgekommen sind und zufrieden waren, wo das Wort "Zeitnot" fast noch ein Fremdwort ist. Auf der anderen Seite das herbstgraue Deutschland, wo vieles perfektioniert, aber mit Hektik und Stress abläuft. Wo es den Menschen zwar materiell um vieles besser geht, aber wenn man ihnen ins Gesicht schaut, dann hat man oft das Gefühl, dass sie nicht besonders glücklich sind.

Der Geruch des offenen Herdfeuers hängt noch wochenlang in unseren Kleidern und Ausrüstungsgegenst„nden. - Ich glaube, wir fliegen bald wieder nach Nepal! Namaste!

 

Wolkenstimmung am formschönen Sechstausender Tramserku