Sentiero Roma im Bergell
Bericht mit Bildern

Mit dem Ortlerkreis auf Filmtour

 

Auweia - so ein Mist: Schon wieder schiebt sich eine große, dunkle Wolke vor die Sonne! Wir schauen uns frustriert an - das dauert mindestens eine Viertelstunde, bis wir wieder Licht zum Weiterfilmen haben. Dabei haben wir sowieso schon genug Zeit verloren - die Gruppe ist schon meilenweit voraus, und wir sitzen da und warten auf die Sonne. Die Aufholjagd wird schweißtreibend und atemraubend werden, aber diese Szene muß einfach noch in den Kasten!

 

Wir sind unterwegs auf dem Sentiero Roma, einer grandiosen Hochgebirgswanderung im Süden des Bergell über dem Val Masino. Diese mehrtägige Tour führt über vier Hütten und mehrere Scharten in circa 2000-2500 Meter immer südlich unter dem Grenzkamm zwischen der Schweiz und Italien entlang und ist durchaus alpin und anspruchsvoll. Der Sentiero Roma wurde in den 30-er Jahren errichtet - sein Name erklärt sich aus der nationalistischen Zeitgeschichte. Der Sektion Mailand des Club Alpino Italiano (CAI) gelang es damals, ihre Hütten zu einem großartigen Weg zu verbinden.

 

Jetzt haben uns die Mailänder zu "ihrem" Weg eingeladen und die Gebietsdurchquerung organisiert. Es ist die erste offizielle Tourenwoche des Ortlerkreises, der internationalen Sektionen-Partnerschaft von CAI Milano, ÖAV Austria aus Wien und der Sektion Oberland in München aus den drei ostalpinen Bergsteigerhauptstädten. Einer der Hauptgedanken dieser Zusammenarbeit ist schließlich neben dem Erfahrungs- und Kulturaustausch das Kennenlernen neuer Tourengebiete und Hütten der drei Sektionen.

 

Vom Sentiero Roma habe ich zumindest schon gehört, aber ohne die Initiative der Sektion Mailand wäre ich die nächsten Jahre sicherlich nicht auf die Idee gekommen, dieses alpine Trekking durchzuführen. Auf was wir uns dabei eingelassen haben, merken wir - meine Seilpartnerin Karin und ich - erst beim Start, als wir unsere ganze Ausrüstung in die Rucksäcke packen: Neben der normalen hochalpinen Wanderausrüstung nehmen wir noch die komplette Kletterausrüstung mit samt Doppelseil, Schlosserei und Reibungsschuhen und darüber hinaus auch noch Steigeisen und Pickel für den abschließenden Eis- und Gletscheraufstieg auf den Monte Disgrazia. Schließlich ist unser alpiner Ehrgeiz doch noch zu groß, um uns in einem berühmten Klettergebiet mit einer reinen Wanderung zu begnügen.

 

Daß meine umfangreiche Fotoausrüstung schwer ist, weiß ich ja schon lange, aber daß auch die 16 mm Filmrollen so ein Gewicht haben, schockt mich dann doch ein wenig. Mit uns sind nämlich zwei Profis vom Bayerischen Rundfunk am Start, die unsere Tour für die Sendung "Bergauf - bergab" filmen wollen. Jürgen Eichinger, der als Filmemacher gleichzeitig Kameramann und Regisseur ist, und Stefan Herbke, der eigentlich als Redakteur bei der Zeitschrift "Berge" arbeitet, aber hin und wieder als Toningenieur tätig ist. Damit beide für ihre Aufgaben beweglich sind, übergeben sie uns charmant noch zusätzlich ein paar Ausrüstungsgegenstände für unsere bereits schweren Rucksäcke. Damit wiegt mein Rucksack weit über 20 kg, was mir als Expeditionsbergsteiger eigentlich nicht allzu viel ausmachen sollte, aber es ist Ende August hier irrsinnig heiß und schwül.

 

Wir starten auf 300 m Meereshöhe in Novate Mezzola zwischen Comer See und Chiavenna. Jürgen hat nämlich den Ehrgeiz, mit Karin und mir als Voraustrupp, das wildromantische und fotogene Val Codera zu filmen als Auftakt zum eigentlichen Sentiero Roma. Daß es aber so steil und mühsam über Hunderte von Treppenstufen hinaufgeht, hat er natürlich nicht gesagt! Das Val Codera ist nämlich eines der wenigen ganzjährig bewohnten Alpentäler, das nicht mit einer Straße erschlossen und daher nur steil und mühsam erreichbar ist. Lediglich ein Materiallift erleichtert den Einwohnern ihr sicher nicht einfaches Leben in der Bergeinsamkeit.

 

Wir schleppen uns und unsere Riesenrucksäcke hinauf und sind über jede Filmpause froh: jedenfalls schwitzt Jürgen genauso wie wir - geschieht ihm ganz recht! Dafür läßt er uns dann den Weg gelegentlich zweimal gehen, wenn er mit seiner Filmausbeute nicht zufrieden ist. Schließlich sind wir als Hauptdarsteller blutige Laien - lediglich meine jahrelange Erfahrung als Super-Acht-Filmer erlaubt es mir, ein paar dumme Fragen zu stellen. Jürgen hat die leichteste 16 mm Filmkamera der Welt zum ersten Mal im Gebirge dabei - sie kostet schlappe 20.000 Euro und die Tonausrüstung mit der voluminösen Mikrofon-Katze noch einmal 5000 Euro. Wir sind beeindruckt und befolgen genau die Regieanweisungen unserer Film-Profis.

In der idyllischen Ortschaft Codera gönnen wir uns eine erste verdiente Pause. Dieses Bergdorf hat sich über die Jahrhunderte nur wenig verändert: Alte Steinhäuser nutzen - eng aneinandergebaut - den wenigen Platz aus, verbunden durch steile Treppen, enge Gassen und Durchgänge. Jürgen ist in seinem Film-Element, und auch ich packe meine Kameraausrüstung aus, um Aufnahmen zu machen.

 

Der Weiterweg zieht sich dann noch ziemlich lange hin - unser Etappenziel liegt weit hinten im Talabschluß. Und nach einigen weiteren Filmstopps bei Almhütten und einer Hängebrücke erreichen wir - schon recht müde - die Brasca-Hütte, die der Sektion Mailand gehört. Obwohl am Samstagabend alles voll belegt ist, bekommen wir durch die ausgezeichnete Organisation unserer Mailänder Freunde ein Zimmer für unsere kleine Gruppe. Und als ob der Wirt nur auf uns gewartet hätte, wird gleich nach unserer Ankunft das Abendessen serviert - und zwar für die ganze Hütte das gleiche Menü: Suppe und Brot, Pasta und Nachtisch, dazu Rotwein und Wasser. Es schmeckt uns hervorragend, wir genießen die Hüttenatmosphäre unter lauter Italienern und sind zufrieden mit unserem ersten Filmtag.

 

Am nächsten Morgen starten wir zu unserer 2. Etappe: Die Rucksäcke sind noch immer nicht leichter, der Weg noch steiler und mühsamer. Hinzu kommen viele Wolken, die uns immer wieder zu Filmpausen zwingen und schließlich so dicht werden, daß wir in den Schutthängen unter einer Scharte völlig im Nebel stehen. Auf der Scharte erkennen wir von oben die letzten Teilnehmer des "Kima-Laufes", eines extremen hochalpinen Marathons über 3.600 Höhenmeter, den die Bergläufer in 6-10 Stunden bewältigen. Es handelt sich bei diesem Lauf um den gleichen Sentiero Roma, für den wir mehrere Tage geplant haben! Zum Glück ist dann der Weiterweg zur Gianetti-Hütte relativ flach. In diesem riesigen Talkessel hausen viele Murmeltiere, von denen Jürgen als Tierfilmer gleich Aufnahmen macht.

In der Gianetti-Hütte treffen wir dann unsere Mailänder Freunde und die anderen Tourenteilnehmer, die nicht vom Tal aus aufgestiegen sind. Marco, der Sekretär und bei den Mailändern "Mädchen für alles", hat uns - zusammen mit seiner deutschen Mutter Anna - schon gestern am Ausgangspunkt in Novate begrüßt. Auf der Hütte mit dabei sind noch der Vizepräsident Carlo, der trotz seiner 62 Jahre der leistungsfähigste und beste Bergsteiger der Mailänder ist, und seine Frau Luisa, außerdem Aurelia, die Leiterin der Geschäftsstelle, sowie die Jugendleiter Ezio und Andrea. Aus der Mailänder Jugend kommen der deutschsprechende Balthasar, die Brüder Sergio und Matteo sowie der Kletterer Roberto - sie sind ganze 14-17 Jahre alt. Die Junioren der Sektion Oberland , Tanja und Simone sind dagegen Anfang zwanzig, die Jugendleiter Klaus und Richard Ende zwanzig und genauso alt wie die beiden Vertreter aus Wien, der Skilehrwart Thomas und seine Freundin Barbara. Da die Mailänder sowohl eine andere Jugendgruppenorganisation sowie auch unterschiedliche Voraussetzungen bei ihren Tourenprogrammen haben, sind zusätzlich noch zwei Bergführer dabei: Renata Rossi, die erste Bergführerin Italiens und Europas und ihr Mann Franco.

 

Leider ist das Wetter am nächsten Morgen schlecht, so daß unsere geplante Tour auf den Piz Cengalo ins Wasser fällt. So haben wir zuerst einmal Gelegenheit, uns gegenseitig kennenzulernen, was bei einer bunt zusammengewürfelten internationalen Gruppe von insgesamt 22 Personen zwischen 14 und 62 Jahren zunächst gar nicht so einfach ist. Aber eine gemeinsame Wanderung und die Tischgespräche bei gutem Essen brechen das Eis. Marco und ich stehen am Nachmittag den Filmern für Interviews über den Ortlerkreis und den Sentiero Roma zur Verfügung.

 

Am nächsten Morgen geht die ganze Gruppe gemeinsam von der Gianetti-Hütte los, zieht sich aber bald weit auseinander: die Konditionsstarken vorneweg, die Schwächeren hinterdrein und ganz am Schluß wieder unser vierköpfiges Filmteam. Es gibt schöne Bäche und Aussichten zu filmen und die erste steile Scharte - mit Ketten klettersteigartig abgesichert - ist trotz Nebels sehr fotogen. Mitten im Steilgelände fange ich an, die Filmcrew bei ihrer Arbeit zu fotografieren: Die Rucksäcke angehängt, die Kamera auf einem Stativ neben dem Abgrund, das Riesenmikrofon in der Hand ...., so mache ich ein paar Bilder. Dabei revanchiere ich mich kräftig für die bisherigen "Schikanen" und scheuche die beiden in die richtige Position: "Bitte noch etwas weiter nach rechts, nach links drehen, einen Schritt hinauf!" .... und so weiter. Jedenfalls machen meine Fotoausrüstung und meine Kommandos anscheinend so viel Eindruck, daß ich später sogar zum Fototermin gebeten werde (siehe Bild ....). Aber inzwischen ist uns die Gruppe weit voraus, und wir rennen mit unserem ganzen Gepäck hinterher, bis uns eine weitere Filmszene vor einem Kollaps rettet. In stetigem "Stop and Run"-Rhythmus queren wir drei steile Scharten und weitläufige Kare. Unser Tagesziel, die Alievi-Bonacossa-Hütte, erreichen wir nach mehr als acht Stunden schließlich bei strömendem Regen.

 

Hier überlegen sich Jürgen und Stefan ernsthaft, ihre Filmtour aus Wettergründen abzubrechen, aber zum Glück scheint am nächsten Tag wieder die Sonne. Während die Teilnehmer in zwei Gruppen einen alpinen Gipfel bzw. einen aussichtsreichen Paß besteigen, packen Karin und ich endlich unsere Klettersachen aus. An einem Klettergarten über der Hütte klettern wir für Jürgen und Stefan zum Filmen an schönen Granitplatten. Da die Filmcrew z.T. in der Wand gesichert werden muß, dauert das Ganze noch mal um Stunden länger als vorgesehen. Ein senkrechter verlockender Granitriß lädt zum Filmen geradezu ein, ist aber 6. Schwierigkeitsgrad und noch dazu selbst abzusichern. Die beiden Bergführer winken dankend ab, und so mache ich mich bei laufender Kamera "onsight" an den Vorstieg. Es geht trotz Legen eigener Sicherungen ganz gut voran, allerdings ist es ziemlich mühsam, in der Wand zu hängen und auf die Sonne zu warten, weil gerade mal wieder ein paar kleine Wolken uns ärgern. Nachdem ich es endlich geschafft habe, klettern auch Karin und einige andere aus der Gruppe diesen Riß von oben gesichert nach. Zufrieden mit diesem Erfolg genießen wir den Hüttenabend, der mit den Gesängen einer italienischen Seniorengruppe eine besondere Note bekommt.

 

Am nächsten Tag verlassen uns nach der Hälfte des Weges Jürgen und Stefan, deren Gegenwart wir sehr genossen haben, und kehren ins Tal zurück. Immerhin waren wir sechs Tage zusammen auf Filmtour und sind natürlich alle sehr gespannt auf die Ausbeute der verschiedenen Filmversionen, die voraussichtlich im Frühjahr 2003 Premiere haben werden. Der Weiterweg zur nächsten Hütte ist wiederum sehr lang und führt sogar über einen Gletscher auf über 2.900 Meter Höhe. Am Ende eines langen Tages geht es noch einmal sehr steil über einen Klettersteig auf eine Scharte hinauf. Einige der Älteren sind dabei schon ziemlich erschöpft, so daß wir zu dritt wieder absteigen und den Schwächsten die Rucksäcke abnehmen.

 

Als wir auf der Ponti-Hütte ankommen, regnet es schon wieder kräftig. Nach einer Dusche, einem guten Abendessen und genügend italienischem Rotwein sind wir wieder optimistisch, und tatsächlich - am nächsten Morgen scheint die Sonne. Sehr früh starten wir in Seilschaften zu unserer Abschluß-Hochtour: voran Carlo und die ganz jungen Mailänder mit den Bergführern, dann Karin und ich mit den Wienern und zum Schluß die Oberland-Junioren. Der Weg über die Moräne, über Blockfelder und den Gletscher bis zur Scharte ist zwar mühsam, aber noch relativ einfach. Danach folgt Klettern im 2.-3. Schwierigkeitsgrad auf frisch verschneitem Fels in über 3.000 Meter Höhe. Während die fünf Mailänder von den Bergführern traditionell geführt werden, entscheide ich mich aus Zeitgründen, gleichzeitig am Seil zu gehen, aber immer genügend Zwischensicherungen zu legen. Behängt wie ein Weihnachtsmann mit allen Klemmseilen, Friends und Schlingen steige ich voran und fixiere alle paar Meter einen Fixpunkt, der gleich für die letzte Seilschaft liegen bleibt. Zum Glück haben wir so viel Material dabei, daß es gerade bis zum Gipfel ausreicht. Wir haben es geschafft und freuen uns auf 3.700 Meter Höhe über diesen Höhepunkt unserer Tourenwoche.

 

Der Abstieg zur Hütte und am nächsten Tag ins Tal hinunter ist kein Problem mehr. In Tal erwartet uns noch ein krönender Abschluß dieser internationalen Tourenwoche: ein mehrgängiges Menü im "Haus des Alpinismus" und ein Empfang durch den Provinzhauptmann der Region und den Bürgermeister der Gemeinde.

An dieser Stelle möchte ich mich - stellvertretend für alle Teilnehmer - für die Einladung, die gute Organisation und das hervorragende Essen bei der Sektion Mailand ganz herzlich bedanken - molto grazie!

 

Entscheidend für den Erfolg dieser Tourenwoche waren aber nicht die schönen Reden der Politiker, die Gastgeschenke oder das gute Essen, viel wichtiger war das Gefühl, bei einer Premiere dabei zu sein, die besondere Atmosphäre zu genießen und sich gemeinsam über den gelungenen Sentiero Roma zu freuen. Schließlich ist es gerade mal ein Jahr her, daß der Ortlerkreis ins Leben gerufen wurde. Ein bißchen stolz sind wir schon, daß es nicht bei Wunschträumen geblieben ist, sondern wir unsere Visionen in die Tat umsetzen konnten! Natürlich war die Organisation durch Sprachprobleme und die räumliche Trennung etwas schwieriger, aber der Erfolg hat uns rechtgegeben. Wir wollen auch in Zukunft auf diesem Weg weitermachen und freuen uns schon jetzt auf die nächsten gemeinsamen Tourenwochen mit unseren Freunden aus Mailand und Wien!